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Mittwoch, 28. Januar 2015

Mylaudi/ Indien/ Kinderorthopädie

High level Kinderorthopädie in Indien –
ein Hamburger Spenden-Projekt im 14. Jahr
Maja Falckenberg

Gesang ausserhalb des Hauses  – fremde Laute - eine Frauenstimme – Kirchenmusik aus
einem etwas entfernten Lautsprecher– langsam werde ich wach- die Morgenrufe mehrere Hähne dringen in mein Bewußtsein  - ich bin wieder in Indien, Mylaudi – 6 Uhr früh. Als ich auf die große Terrasse trete, die unseren Zimmern gleichermassen als Wäschetrocknung, Eingang und Sitzplatz dient , schälen sich die entfernten Berge langsam aus dem Dunst,der Lotus-See und die Palmenwälder bilden eine grüne Basis, es weht ein leichter Wind. Die Geräusche nehmen langsam zu, wenn die Kinder des Waisenhauses aufstehen, auf den Dächern ihre Wäsche aufhängen und auch sonst geschäftig herumlaufen. Ab 7 kommt die Sonne langsam über die Bäume und es wird wärmer.  Jetzt kann ich noch eine Stunde lesen, mails beantworten oder einfach einen Tee trinken und schauen. Um 8.15 ziehen die Gruppen der Kinder, Jungen und Mädchen getrennt in die Schule. 8.30 klingt die Glocke, die das deutsche Team zum Frühstück ruft.



Aktuell arbeiten 2 Kinderorthopäden/innen und eine Physiotherapeutin aus Deutschland ergänzend zu dem indischen Team unter Leitung von Dr J. Zippel   hier in Mylaudi, Tamil Nadu, Südindien.  Als Anästhesistin/Schmerztherapeutin versuche ich, die Arbeit durch Konzepte der Schmerztherapie zu unterstützen. Verschiedene Ärzte, etwa 15 insgesamt verbringen 2-4 Wochen hier in Mylaudi,  um mit Dr Zippel, der von Oktober bis März hier lebt, zu arbeiten.
Indien hat aktuell ~1.2 Milliarden Einwohner. Spezialisierte Medizinische Versorgung ist in einem sich entwickelnden Land wie Indien, in dem eine lange tradierte Gesellschaftsordnung mit einem Kastensystem, das in abgelegenen Landes- Bereichen noch Lebensformen wie bei uns vor 200 Jahren stützt,  noch ein Luxus, den sich nur wenige leisten können. Im Gegensatz dazu bestehen in den Ballungsgebieten, und es gibt etliche Millionenstädte, deren Namen wir meist noch nicht gehört haben, ähnlich gute medizinische Versorgung wie bei uns. Während alle akuten Krankheitssituationen kostenfrei  in den Regierungskrankenhäusern behandelt werden können, gilt das noch nicht für Fehlbildungen und Geburtsschäden. Um diesen Missstand ein wenig zu lindern, wurde im Jahre 2002 in Mylaudy, Tamil Nadu  auf der Südpitze Indiens  eine Kinder-Orthopädiestation mit Rehazentrum in Betrieb genommen. Hier werden Kinder aus armen Familien umsonst behandelt. "Vater" des Projekts ist der Hamburger Orthopäde  Dr. Jürgen Zippel, der hier gemeinsam mit anderen Ärzten und Physiotherapeuten aus Deutschland unentgeltlich jedes Jahr zwischen Oktober und März  arbeitet und etwa 80 Kinder operiert und zahllose weitere berät.
Besonders sog neglected Klumpfoot-Kinder, aber auch Patienten mit Folgen von Cerebralparesen (CP), Artrogryposen  und anderen Extremitätenfehlstellungen werden hier mit hoher Fachkenntniss operativ oder konservativ  (z.B.nach Ponzetti) behandelt.

 Die Arthrogryposis multiplex congenita (AMC), beschreibt ein schweres angeborenes Krankheitsbild mit Kontrakturen  in zwei oder mehr Bereichen des Körpers. Die Häufigkeit wird in der Literatur mit 3.000 bis 11.000 angegeben, in Mylaudi sehen wir viele solcher Kinder. Der Name kommt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich Verbiegung der Gelenke  (arthron, "joint"; grȳpōsis, spätes  Latein von  Greek grūpōsis, "hakenförmig"). Kinder, die mit einer oder mehr Gelenkkontrakturen geboren werden,  haben auch bindegewebige Veränderungen, es besteht auch eine muskuläre Verkürzung, sie können die Extremitäten nicht richtig beugen oder  strecken. AMC ist in 3 Gruppen unterteilt, Amyoplasia  (Gelenkkontrakturen und Muskelschwäche), distale Arthrogryposis (Hände und Füße betroffen)  und die syndromale Form. Wenn eine neurologische Problematik oder Muskelerkrankung im Vordergrund steht gehört die Krankheit zum Syndrom Typ. Eine Ursache ist bisher nicht bekannt.

Räumliche Basis für die medizinische Versorgung in Mylaudi  bietet ein Waisenheim. In dem anliegenden Heim werden etwa 75  Kinder bis zum Verlassen der Schule durch Patenschaften der „Patengemeinschaft für Hungernde Kinder“  gefördert. Das Heim ist eines von 18 in Kerala und Tamil Nadu dieser segensreichen Organisation. Das gesamte Orthopädie-Projekt wird von Spenden finanziert, die neben dem Waisenprojekt getrennt davon verwaltet werden.
Ermöglicht wurde der Bau der Klinik durch eine großzügige Spende der Alte Leipziger-Hallesche Versicherung. Es ist die einzige technologisch hochwertig ausgestattete kostenfreie Klinik für Kinder- Orthopädie in Tamil Nadu und dem angrenzenden Bundesstaat Kerala und dementsprechend groß ist der Andrang; auch arme Familien aus den Bergen weiter im Norden kommen für die Hilfe über viele Kilometer weit angereist. 
Das COC (Children Orthopaedic Center) besteht aus einer Ambulanz mit Röntgenstation und Gipsraum, einer 16-Betten-Station, einem Physiotherapieraum und einer orthopädischen Werkstatt. Das indische Team setzt sich aus einem Physiotherapeuten,  einer Pflegekraft, einer Ambulanzkraft und einem Orthopädietechniker sowie weiteren Personen für Organisation, Transport, Küche etc zusammen. Die behandelnden deutschen Ärzte kommen, auf eigene Kosten, vorwiegend aus Hamburg, aber auch der Schweiz wie auch hamburger  Physiotherapeuten, die die einheimischen Kollegen auch in Kursen unterrichten und schulen, die Eltern im Handling mit den behinderten Kindern anleiten und die operierten Kinder manchmal erstmalig in ihrem Leben auf die Füße stellen. Es steht ein großes Therapiebad zur Verfügung. Alle nicht indischen Kräfte arbeiten unentgeltlich und wechseln sich übers Jahr ab. Die Operationen werden in einer privaten Klinik in der Nähe durchgeführt, dort werden  hierfür nur die tatsächlich anfallenden Betriebskosten gezahlt. Die Operationskosten können, genauso wie die Kosten für Medikamente, Verbandsmaterial und das medizinische Hilfspersonal, nur durch Spenden aufgebracht werden. Im Reha-Zentrum des COC werden die operierten Kinder dann nachbehandelt. So werden für etwa 55.000 Eu/Jahr etwa 80 Kinder/Jahr  operiert, häufig erstmalig in ihrem Leben auf die Füße gestellt und weitere mit konservativen Massnahmen   durch kompetente Physiotherapie und Hilfsmittelerstellung gebessert. 
Die Kosten entstehen durch Unterhalt der Einrichtung und die med. Kosten z.B.:
• 180 Euro für eine Operation einschl. der Narkose,
• 50 Euro für die Medikamente zur Nachbehandlung,
• 50 Euro z.B. für einen Gehwagen aus der eigenen Werkstatt.

Nach dem Frühstück beginnt um 9.00 der Arbeitstag. Erst Sichtung der ersten Ambulanzpatienten, dann 9.30 Visite der Station. In Indien leben die Familienangehörige mit dem kleinen Patienten. Hier sind immer wieder Gespräche und Anleitung notwendig; viele Mütter lassen die Kinder kaum vom Arm, spielen dagegen ist ihnen fast unbekannt. So ist es schwer, die Kinder zu Aktivität zu motivieren. Einige Wochen im Jahr wird das sehr erfolgreich durch eine Maltherapeutin und eine Psychiaterin, die ihre operierenden Lebenspartner begleiten,  künstlerisch-pädagogisch unterstützt. Die indischen Teammitarbeiter sind englisch-sprachig und übersetzen, besonders die Krankenpflegekraft Sheila.  Die aktuelle Entwicklungen der Kinder in  der Physiotherapie werden in der Visite erörtert, die Gipswechsel und Wundschauen für heute festgelegt. Zur Physiotherapie kommen später  auch noch ambulante Kinder, der Therapie-Raum ist am Vormittag  schnell mit anzuleitenden Müttern, den Kindern und Therapeuten in laufendem Wechsel gefüllt. Es herrscht fröhlicher Lärm. In der Ambulanz werden bis Mittag 10-12 Kinder gesehen. Es sind überwiegend Erstvorstellungen, schwierige Anamneseerhebungen, manchmal von weit her angereist, häufig mit unrealistischen Vorstellungen über das Machbare.  In der Erinnerung der Eltern hat häufig ein „Fieber“  die unglückliche Weiterentwicklung ausgelöst und nicht die erkennbare CP (Cerebralparese) An 2 Tagen in der Woche wird operiert. Nach dem Essen und einer kleinen Pause machen wir uns um 13.45 auf den Weg zum OP. An 2 Tagen in der Woche wird operiert.


Heute soll Arunja operiert werden. Er ist einer von 2 Brüdern, jetzt 11 und 13 Jahre, die seit 1.5  Jahren hier in Behandlung sind. Beide leiden an einem nicht  eindeutig zuordbaren Fehlbildungsssyndrom, einer Art  Osteochondrodysplasie , die besonders die Beine betrifft, bei einem der Kinder auch den Schädel. 1 Geschwisterkind und die Eltern sind gesund.
Der jetzt 12 Jahre alte Arunja(li im Bild mit 3 und 5 Jahren) hat spät gesprochen. Mit 3 Jahren wurde ein VSD erfolgreich operiert.
Bei Erstvorstellung waren seine Ellenbogen nicht streckbar, er hatte eine leichte Skoliose, lief  re auf dem Innenknöchel, li passabel mit aussenrot Hüfte und innenrotierten US/Patellalux  und valgisiertem Kniegelenk;  der re Fuß wies einen schwersten Talus verticalis auf.
Es erfolgten bereits 2014 Eingriffe zur Verbesserung der Gangfähigkeit (Reposition des Talocalcaneargelenkes und Arthodese; ausserdem fand eine  re aussenrotierende , distale OS  Osteotomie statt.Heute soll mittels Osteotomie des li distalen OS,  eine Varisierung und Innenrotation  und schließlich eine Patellareposition durchgeführt werden.
Der Bruder, der jetzt 13 Jahre alte Vicky fiel neben den schweren Klumpfüssen früh mit einer ausgedehnten Hörstörung auf; dadurch lernte er besonders schwer sprechen, auch heute ist seine Sprache typisch guttural. Er wies massive Klumpfüße bds auf, eine ausgepr. Skoliose, keine Hüftinnenrotation, Coxa vara mit Hüftkopfverformung, Retrotorsion der SH, dadurch Aussenrotation bder OS,  lief jedoch frei mit seinen  „neglected Klumpfoot“. Vor einem Jahr erfolgte die  Klumpfuss- OP li mit Lambrinudi-Osteotomie und innenrotierender distaler OS-Osteotomie. Am 10.12. 014  wurde die gleiche OP auch re durchgeführt.
Ziel aller Eingriffe ist eine  Besserung des Gangbildes und Verhinderung einer frühzeitigen Gangunfähigkeit.

Arunja ist am Tag zuvor in die Klinik nach Nagercoil, einem etwa 40 Minuten entfernten Ort gebracht worden. Der dortige Anästhesist sorgt für alle Vorbereitung lege artis. In der Klinik angekommen fahren wir im Fahrstuhl in das OP-Geschoss; unsere Schuhe warten im Fahrstuhl auf uns. Wir kleiden uns in die übliche grüne Kleidung. Im Op wartet schon der Anästhesist mit unserem Patienten in Spinalanästhesie; etwas Midazolam läßt ihn friedlich schlafen. Nach der Osteotomie mit Innenrotation  und Fixierung mit Drähten ist die Patellaverlagerung leichter als befürchtet und das vorläufige Ergebniss läßt nach 1.5 Stunden alle zufrieden aufatmen. Die Schweizer Kollegin  kann viele Photos für Vorträge gebrauchen und so habe ich eifrig photografiert . Der kleine Patient wird die nächsten Stunden noch durch die Spinale gut schmerzgelindert sein; später erhält er Ibuprofen und kleine Dosen Buprenorphin sc. Post-Op gibt es für uns „Arbeiter“ von denen ich den aller kleinsten Teil trug einen zuckersüßen heißen Tee und wunderbare Teigtaschen im Umkleideraum.

 In dem schwindenden Tageslicht fahren wir nun durch die irrwitzig vollen und lauten Straßen, die mit den gelber Tuc Tucs, den landesüblichen Taxis, zahllosen Motorrädern, Menschen und Tieren  gefüllt sind nach Mylaudi zurück.
An den Strassen sind nun  zahllose kleine Läden, die von Autoreifen bis Zwiebeln alles bieten geöffnet. Es grenzt immer wieder an ein Wunder, dass Frances uns mit gutem Tempo heil nach Hause bringt. Die verringerte Wärme hat auch im Krankenhaus und Heim die Menschen herausgelockt. Ich schwimme noch ein paar Runden. Um 19.30 beginnt unsere blaue Stunde, so genannt nach den blauen Flaschen des  Bombay Gin, den es an manchen Tagen gibt, wenn ein neuer Gast etwas mitbrachte. 20.00 klingelt es zum Abendessen, ein köstliches Curry wartet . Um 21.00 ist wiederum Visite. Der Mutter und dem Bruder von Arunja können wir berichten, dass alles gut aussieht. Morgen wird er zurückkommen. Gegen die Schmerzen wird er zusammen mit Ibuprofen in den ersten Tagen ein Norspan 10 Pflaster bekommen. Alles ist gut heute abend, kein Gips drückt, die Abfrage der Schmerzen mit VAS ergibt nur schmerzfreie Kinder, wir können in die Nachtruhe gehen.

Ich lese noch etwas unter meinem Mückennetz und schlafe dann   einem neuen Tag entgegen. Arbeit wird es wieder genug geben.

Allerdings ist die Fortsetzung des Projektes gefährdet. Dr Zippel möchte sich nach vielen Jahren der Tätigkeit zurückziehen und es ist  trotz vorerst guter finanzieller Ausstattung bisher nicht gelungen, einen Nachfolger zu finden. In Indien werden fast keine Kinderorthopäden ausgebildet, da das staatliche Gesundheitssystem bisher eine derartige Versorgung nicht finanziert. Ein deutscher Ersatz ist ebenso schwierig zu finden. Die Kinder benötigen häufig mehrere Eingriffe und Kontinuität in dem Behandlungskonzept für einige Monate zur Erlangung der Gehfähigkeit und das Projekt hat sehr davon profitiert, dass Jürgen Zippel von Oktober bis März dort blieb.  So muß abgewartet werden, ob sich eine gute Lösung findet und Kinder wie die beiden Brüder weiterhin eine Chance auf ein selbständiges Leben bekommen werden.
Wer Interesse an der Arbeit hat, ist gerne aufgefordert, sich mit Dr Zippel in Verbindung zu setzen: juergen_zippel@yahoo.de
ebenso sind Geldspenden herzlich willkommen an folgende Bankverbindung:
Kinderorthopädie
BLZ 23052750, Kreissparkasse Herzogtum Lauenburg
Konto Nr  50229



 





1 Kommentar:

  1. Es ist schön, dass die Kinder dort nun eine Behandlung bekommen. Bis ich den richtigen Orthopäde Köln gefunden hatte, brauchte ich etwas.

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